Buenos Aires
Dass Buenos Aires riesig ist, konnte ich schon vom Flugzeug aus sehen, als ich abends landete und sich das weite Lichtermeer am Horizont verlor. Einige Viertel habe ich jedoch oberflächlich kennen gelernt. San Telmo im sogenannten “Microcenter” hat mir architektonisch sehr gut gefallen und die zahlreichen Antiquitätenläden gaben mir einen Einblick auf ein, von Europa geprägtes, früheres Buenos Aires. Handgefertigter Schmuck, Lederartikel und Kleidungsstücke gibt es auf den Straßen und Plätzen zu kaufen. Das historische Viertel ist heutzutage mit netten, aber teuren Bars und Restaurants bestückt. In einigen Straßen sah ich noch Kopfsteinpflaster. Es sind die Überbleibsel, die einst einen Großteil der Stadt gepflastert haben und nun durch Asphalt ersetzt werden. Diese Steine kamen vor ca. zweihundert Jahren aus England, um die leeren Schiffe zu füllen, die danach mit Getreide, Fleisch und Leder zurückkehrten. Ich habe viele Baustellen in der Stadt entdeckt, in denen das Kopfsteinpflaster entfernt und danach die Straße geteert wurde. Die Instandhaltung der Steine soll wohl mehr kosten als die Asphaltierung. Viele Bewohner der Stadt sind jedoch empört über die Entfernung der “Adoquines”. Zum Einen, da sie Teil der Geschichte sind und zum Anderen, weil sie teilweise illegal verkauft, anstatt gelagert zu werden, um beschädigte Steine zu ersetzen. Diese Tatsache konnte sogar bewiesen werden.
ONCE
"Once" ist eine Zone des Viertels Balvanera und hat ihren Namen von der Zugstation Once (de septiembre 1852) die sich in dieser Nachbarschaft befindet. Am 11.09.1852 leitete eine Revolution den Prozess der Unabhängigkeit - von Buenos Aires als Provinz - von der Konföderation Argentiniens ein. Once ist aber auch als das jüdische Viertel bekannt, denn hier lebt neben einer großen Anzahl von koreanischen und peruanischen Immigranten eine zahlreiche, jüdische Gemeinde. Traditionsgemäß sind viele von ihnen Stoffhersteller und verkaufen diese in ihren eigenen Läden. Dieser Teil der Stadt ist für die extrem niedrigen Preise von Kleidung, Schuhwerk und Stoffen am laufenden Meter bekannt, außerdem gibt es sehr viele “Basare” oder Ramschläden.
Während meines Aufenthalts in Buenos Aires hatte ich Ruhe dringend nötig. Daher mied ich die Hauptstraßen von Once, auf denen immer total viel los ist: auf den Bürgersteigen muss man ständig ausweichen um nicht mit den anderen Fußgängern zusammenzustoßen und die Straßen sind regelrecht vollgestopft mit Autos, Taxis und Stadtbussen. Schwarze, stickige Abgase umhüllen das Fußvolk und das Gehupe der Fahrzeuge kann einen schier zum Wahnsinn treiben.
Durch Internetrecherche erfuhr ich, dass Argentinien die größte Anzahl von jüdischen Personen in ganz Lateinamerika beherbergt und auf der Welt (Israel ausgeschlossen) auf dem sechsten Platz, gleich hinter Großbritannien und Russland steht.
Die jüdische Bevölkerung besteht aus orthodoxen und nicht-orthodoxen Juden. Letztere sind äußerlich nicht von den anderen Porteños (so nennt man die Bewohner der Hauptstadt) zu unterscheiden. Aber die orthodoxen Juden haben eine ganz besondere Art sich anzuziehen, die mich in ihren Bann gezogen hat: die Männer sind alle mit schwarzen Anzügen gekleidet und tragen entweder schwarze Hüte mit breiten Krempen oder die traditionelle jüdische Kopfbedeckung, die sich Kippa nennt. Viele von ihnen haben lange Bärte und eine lange, gelockte Haarsträhne ziert beide Schläfen.
Die Frauen haben alle knöchellange Röcke an, und tragen darunter meistens weiße, blickdichte Strumpfhosen. Ihre Blusen sind langärmlig, da sie keine Haut zeigen dürfen. Die verheirateten unter ihnen tragen Perücken oder Hüte, um ihr natürliches Haar zu verbergen.
Da ich in dem jüdischen Viertel zum Yogaunterricht ging, war ich fast täglich dort. Neugierig schaute ich mich immer um und merkte, dass mich dieses Szenarium sehr faszinierte. Ich kam mir vor wie in einer anderen Welt. Oft war ich zu Schulschluss in der Gegend und beobachtete die Kinder, die von ihren Müttern abgeholt wurden. Die Kinder sind, was die Kleidung betrifft, eine Miniaturausgabe ihrer Eltern.
Staunend entdeckte ich auf meinen Spaziergängen etliche Geschäfte die koschere Lebensmittel verkaufen, jüdische Schulen, und Restaurants, die ausschließlich koschere Speisen anbieten. Ich erfuhr auch, dass die Gemeinde ihren eigenen Radiosender hat, ebenso einige jüdische Sport- und soziale Vereine.
Die Synagogen sind manchmal kaum zu erkennen. Die einzigen Merkmale sind die niedrigen Pfosten, die sich vor den, oft unscheinbaren Gebäuden, auf dem Bürgersteig befinden. Ich fand es befremdlich, dass alle Schulen durch hohe Mauern und Tore geschützt und Videokameras am Eingang installiert sind. Sämtliche Synagogen haben einen Wachposten in einer Kabine auf dem Bürgersteig stehen und viele Familienhäuser sind hinter hohen Gittern versteckt. Später fand ich heraus, was es mit den Pfosten auf sich hat, die sich ebenso vor Schultoren und öffentlichen, jüdischen Institutionen befinden: Im März 1992 gab es einen Anschlag auf die Israelische Botschaft und im Juli 1994 einen weiteren auf die AMIA (Asociación Mutual Israelita Argentina). Turkos Familie lebte nur wenige Straßen von dem Gebäude der AMIA entfernt und hörte die Explosion, die dort wie ein Donner klang. Wenige Minuten zuvor ging meine Schwiegermutter an diesem Häuserblock vorbei zu ihrer Arbeitsstelle. In beiden Fällen wurde der Anschlag durch Autobomben verübt. Seitdem versucht die jüdische Gemeinde sich so gut wie möglich zu schützen. Das Gebäude der AMIA wurde mehrere Meter vom Bürgersteig entfernt neu errichtet und durch eine hohe Mauer geschützt. Die Pfosten blockieren die Einfahrt und verhindern somit die Zufahrt von Fahrzeugen ins Gebäude. Auf diese Weise soll der Schaden verhindert werden. Zum Andenken stehen die Namen der Verstorbenen einzeln auf Metallplatten am Fuße der Bäume, die die Straße säumen. Auf einer Tafel, die an der Fassade angebracht ist, sind die Namen auch noch einmal aufgelistet. Zum Glück hat sich so ein Drama jedoch nicht mehr wiederholt. Ich finde es total schade und traurig, dass diese Menschen dazu gezwungen sind, so verschanzt zu leben. Dass diese Vorsicht Teil ihres täglichen Lebens geworden ist.
Mir wurde davon abgeraten mich abends dem Platz “Miserere” /Estación Once zu nähern, da es eine unsichere Gegend sein soll. Tagsüber ist dort immer sehr viel los. Unzählige Menschen warten auf die vielen Busse, die hier eine Haltestelle haben. Man sieht auch etliche Personen und Familien die auf der Straße und im Elend leben.
Eines Tages zeigte mir Turko die “Gedenkstätte von Cromañón”, die sich nur wenige Schritte vom Platz Miserere (besser bekannt als Plaza Once) in der Straße B. Mitre befindet. “Cromañón” nannte sich die Konzerthalle, die nach der Tragödie vom 30.12.2004 schließen musste. An diesem Datum spielte die Band “Callejeros”, die auf ihren vorangehenden Konzerten die Nutzung von Leuchtraketen tolerierte. An jenem Abend hatte dies aber fatale Folgen: noch während die Band das erste Lied zum Besten gab, zündeten ein paar Jugendliche im Publikum Leuchtraketen. Wenige Sekunden später steckten brannte das synthetische Material, welches sich unterhalb der Decke befand, lichterloh. Die giftigen Gase verursachten den Tod von 193 Personen und es gab ca. 1500 Verletzte. Die Evakuierung des Lokals wurde erschwert, da zum Einen ungefähr 3000 Menschen mehr zugegen waren, als es die Kapazität der Halle erlaubte und zum Anderen ein Notausgang zugesperrt war. Die Familienangehörigen der Opfer errichteten die Gedenkstätte indem sie die Namen der Verstorbenen an die Wände schrieben und die Sportschuhe der Jugendlichen an Seilen aufhängten. Mich hat die Gedenkstätte sehr bewegt, das Bild der hängenden, unzähligen Turnschuhe ganz besonders.
Once ist ein Ort, der viel zu erzählen hat. Die Vielfalt von Kulturen, Gerüchen und Farben haben mich in seinen Bann gezogen. Mir ist, als würde ich in eine andere Welt und teilweise auch in eine andere Zeitepoche eintauchen.
Quellen:
History of the Jews of Argentina (nicht auf Deutsch publiziert)
http://en.wikipedia.org/wiki/History_of_the_Jews_of_Argentina
Tu Meser (argentinische Webseite)
http://tumeser.com/-/aca-desde-alla/52-once-el-barrio-judio-de-buenos-aires-ayer-y-hoy
ONCE (Artikel nur auf Spanisch zu finden)
http://es.wikipedia.org/wiki/Once_(Buenos_Aires)
Cromañón Wikipedia: (der deutsche Artikel stimmt nicht 100% mit dem spanischen überein, ich beziehe mich auf den letzteren, da ich meine, er sei wahrheitsgetreuer)
http://de.wikipedia.org/wiki/Rep%C3%BAblica_Croma%C3%B1%C3%B3n
http://www.diariobuenosaires.com.ar/nota2.asp?IDNoticia=30634 (Artikel einer Tageszeitung von Buenos Aires auf spanisch)
Der “Caminito” im Viertel Boca hat mich sehr enttäuscht. Ich hatte geglaubt, dass diese Zone ein authentisches Tangomilieu innehat und musste feststellen, dass das bekannte Foto auf der Postkarte, die bunte Fassaden und Tangotanzende Pärchen zeigt, tatsächlich nur eine Postkarte ist. Die wenigen Straßen des Caminitos sahen für mich aus wie ein Szenarium aus Disney Land. Alles ist komplett für den Touristen ausgelegt und mit vielen Restaurants und Souvenirläden vollgestopft. Authentisch fand ich hier absolut nichts.
Nebenan verläuft der Fluss “Riachuelo”. Ich staunte über das von Dreck und Müll erstarrte, dunkelbraune Wasser. Hier scheint kein Schiff mehr abzulegen. Der Puerto Madero ist dagegen ganz schick und hat in den letzten Jahren viele Erneuerungen erlebt. Segelschiffe ankern hier und der Hafen ist von modernen Hochhäusern umringt.
Was mir bei der Orientierung in der Millionenstadt sehr geholfen hat, ist die numerische Unterteilung der Häuserblöcke in Hunderterabschnitten. Das liegt daran, dass ein Block die Länge von ca. 100 Metern hat. Ich konnte also leicht errechnen wie weit ich noch laufen musste, wenn ich z. B. in der Straße Arenales Nummer 2100 war, aber zur 2700 musste. Dann wusste ich, dass ich noch sechs Blöcke weiter, also ca. 600 Meter laufen musste.
So gut wie alle Straßen der Großstadt sind von Bäumen gesäumt. Sie bereichern im Sommer das Grau der Stadtlandschaft mit ihrem saftigen grün und spenden außerdem Sauerstoff und Schatten. Mit der Sommerhitze und den schwarzen Abgasen ist hier nämlich nicht zu spaßen. Einige Bäume sind so hoch, dass sich ihre Kronen in der Mitte treffen und so grüne Tunnel formen.
Es gibt auch viele Parks und Spielplätze für Kinder in der Stadt verteilt. Auch kulturell hat Buenos Aires viel zu bieten. Einiges davon kann man auf den Straßen frei erleben, wie zum Beispiel Konzerte, Festivals, Theateraufführungen oder Märkte allerlei handgefertigter Artikel.
Teil des gewohnten Stadtbilds sind auch die sogenannten “Cartoneros”. Ich möchte über sie erzählen, weil ich sie täglich gesehen habe und sich mir durch ihren Anblick mehrere Fragen gestellt haben. Ich fand es nicht angebracht die Leute direkt anzusprechen, weil sie ganz offensichtlich Außenseiter der Gesellschaft sind. Ich hatte das Gefühl, dass sie sich mir gegenüber nicht öffnen würden. Deshalb habe ich einige Porteños über sie befragt und im Internet recherchiert.
Cartoneros sind Leute, die auf eigene Faust vom späten Nachmittag bis nachts mit Metallwägen durch die Straßen laufen und Müllbeutel und Bürgersteige auf der Suche nach Kartons, Papier und anderen, wiederverwertbaren Materialien absuchen. Cartoneros gibt es nicht nur in Buenos Aires, sondern auch in anderen Großstädten Südamerikas. Ich hatte zuvor welche in Paysandú, Uruguay gesehen. Hier sind viele von ihnen Frauen und Jugendliche. Seit der Finanzkrise, die 1999 mit der Privatisierung mehrerer Unternehmen (Wasser, Strom, Telefon, Bahn) begann und 2002 mit dem “Corralito” ihren Höhepunkt erreichte, haben zahlreiche Bewohner Argentiniens ihren Job und ihre Ersparnisse verloren und sind verarmt. Die Tätigkeit, Papier und Kartons zu sammeln, um das Material später an Fabriken zu verkaufen, die es recyceln, bringt den Cartoneros pro Kilo ca. 35 centavos ein. Im Monat ergibt dies ein Gehalt von etwa 450 pesos, umgerechnet um die 90€. Die meisten von ihnen leben zig Kilometer außerhalb, in verarmten Gegenden, und kommen mit dem Zug in die Stadt, um ihre tägliche Arbeit zu verrichten. Es sollen ca. 40.000 Personen pro Nacht sein. Sie haben alle ihre eigenen Routen und streiten untereinander nicht um den Müll. Wer zuerst kommt, mahlt zuerst; von den Veteranen wird diese Regel berücksichtigt. Ihre Wägen können nach getaner Arbeit bis zu 200kg wiegen. Mit Hilfe ihrer Kollegen hieven sie diese wieder in die Züge, um spätnachts heimzukehren. Obwohl sie alle hart arbeiten, werden sie von vielen Bewohnern und Polizisten als Kriminelle und Drogensüchtige beschimpft. Manche Bewohner der Stadt sind aber sehr hilfsbereit und trennen extra ihr Papier, Zeitschriften und Kartons für die Cartoneros und erleichtern somit ihre Arbeit.
Ich kann das zwar schwer beurteilen, weil ich nicht hier lebe, aber ich glaube nicht, dass es kriminelle und gefährliche Personen sind. Eine Freundin von mir ist einige Jahre lang täglich in demselben Zugabteil gefahren wie die Cartoneros, weil sie mit dem Fahrrad reiste und Außerhalb lebte. Sie erzählte mir, dass sie sich niemals in ihrer Anwesenheit bedroht gefühlt, sondern eher die Zugfahrt über locker mit den Leuten gequatscht und gelacht hat.
Quellen (alle auf Spanisch):
http://www.clarin.com/suplementos/zona/2002/10/27/z-00215.htm
http://es.wikipedia.org/wiki/Cartoneo
http://lazosrotos.blogia.com/2006/051502-cartoneros.-argentina-.php
Was mich auch total fasziniert hat, sind die jungen Leute, die die Hunde Anderer Gassi führen. Die haben nämlich in der Regel nicht nur einen oder zwei Hunde an der Leine, sondern teilweise bis zu zwanzig! Sie führen sie entweder tatsächlich an beiden Händen, oder tragen einen Gürtel um die Hüfte, an dem alle Leinen rundherum befestigt sind. Das ist vielleicht ein Schauspiel! Ich bin jedes Mal beeindruckt, wenn ich sie sehe.
VERKEHR
Ich war zwar auf ein gewisses Verkehrschaos vorbereitet, das man in zahlreichen Großstädten der Welt finden kann, aber die rücksichtslose und aggressive Fahrweise der Bewohner hat mich ziemlich geschockt. Hier will jeder der Erste sein, alle scheinen es eilig zu haben und aus Höflichkeit wird in der Regel niemand vorgelassen. Die Fahrspuren werden auch nicht eingehalten. Wenn auf einer Straße zwei Spuren markiert sind, aber vier Autos nebeneinander passen, dann wird dieser Platz auch genutzt und ausgefüllt. Ständig werden die Streifen gewechselt und manchmal fahren die Autos bei ihren Manövern nur wenige Zentimeter voneinander entfernt. Sei es bei Kreiseln oder kleinen Kreuzungen ohne Verkehrsschilder, es gilt in jedem Falle: wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Also wird kräftig auf's Gas gedrückt und die Hand auf die Hupe gelegt, um gegebenenfalls vorzuwarnen. Diese wird sehr oft und gerne benutzt: als Aufforderung an den Vordermann, schneller zu fahren, zur Warnung anderer Verkehrsteilnehmer und teilweise auch zur Manifestierung der Ungeduld und Wut, begleitet von Beschimpfungen durch das heruntergelassene Fenster.
Fußgänger kommen grundsätzlich zuletzt. Auch wenn die Ampel auf grün springt, muss ein Fußgänger immer vor den Abbiegern auf der Hut sein, denn diese rasen mit der Zuversicht um die Ecke, dass sie auf jeden Fall den Vorrang haben. Und wenn mal jemand freundlicherweise den Fußgängern den Vortritt gibt, beschweren sich oft die Fahrer der Autos dahinter. Sie fühlen sich dazu genötigt zu warten und fordern das Fußvolk mit der Hupe auf, gefälligst schneller die Straße zu überqueren.
Teilweise gab es in unserer Wohngegend gesperrte Straßen oder Fahrstreifen, weil der Asphalt repariert oder ein Baum gefällt wurde. Da war das Gehupe wirklich unerträglich, denn es hielt den ganzen Tag an. Den genervten Autofahrern schien es schlicht egal zu sein, dass sie damit die Anwohner wahnsinnig machen. Sie sind ungeduldig, wenn es nicht vorwärts geht, und das geben sie mit einem nicht enden wollenden “tuuuut, tuuut” bekannt.
Ich kann bei der immensen Größe der Stadt zwar absolut nachvollziehen, dass einem als Autofahrer irgendwann der Geduldsfaden reißt, finde es aber unfair den Nachbarn gegenüber, die sich den Lärm anhören müssen. (Hier spreche ich natürlich von mir als geplagte Anwohnerin.)
Ich frage mich sowieso, weshalb so viele Autos unterwegs sein müssen. Es könnten mehr öffentliche Verkehrsmittel genutzt werden, oder mehrere Personen in einem Wagen reisen. Viele Leute die ich sehe sind nämlich ganz alleine unterwegs.
Ich habe in Deutschland meinen Führerschein gemacht; wer dort mal zu Besuch war weiß, wie korrekt die Fahrweise der Germanen in der Regel ist. Deshalb würde ich mich nie trauen in der Hauptstadt zu fahren. Schon als Beifahrerin werde ich ganz nervös und denke, dass es sicher sehr schwer ist, sich der rasanten Geschwindigkeit anzupassen und auf alle Verkehrsteilnehmer zu achten.
Taxifahrer erlauben sich grundsätzlich alles - das scheint ein weltweites Taxifahrerphänomen zu sein - mit Fahrgästen fahren sie oft zu schnell, aber wenn sie auf der Suche nach neuen Kunden sind, schleichen sie durch die Stadt und hoffen darauf, per Handzeichen angehalten zu werden.
Busfahrer haben ebenfalls eine rasante und rücksichtslose Fahrweise. Oft fliegt die Tür noch zehn Meter vor der Haltestelle während der Fahrt auf, was die Ungeduld und Hektik des Busfahrers zeigt. Es sind alte Busse ohne Katalysator, die zwar sehr hübsch beklebt und dekoriert sind, jedoch einen lauten Motor und quietschende Bremsen haben. Also Lärm gibt es im Zentrum und an den Hauptstraßen zur genüge.
Ich persönlich ziehe ruhige Zonen mit niedrigen Wohnhäusern vor, wie ich sie zum Beispiel in Palermo viejo, Villa Crespo, Caballito, Chacarita oder Almagro gesehen habe. Die Häuser sind um die 100 Jahre alt und haben einen Baustil, der mich an Spanien und andere Länder Europas erinnert. Von Freunden, die dort wohnen, habe ich erfahren, dass der Lärmpegel niedrig und es besonders an Wochenenden sehr angenehm ist.
Meine Schwiegereltern haben ihre große Wohnung an der Kreuzung von zwei sehr befahrenen Hauptstraßen, die zum Zentrum und dem Viertel Recoleta gehören. Recoleta ist als schicke Wohngegend bekannt. Ich fand es immer ziemlich lustig, dass der Turko nie zugeben will, dass er dort wohnt. Wenn ihn jemand nach seinem Viertel fragt, sagt er in der Regel, dass er aus dem angrenzenden “Balvanera” ist.
Seine Eltern sind vor vielen Jahren hierher gezogen und haben den extremen Verkehrslärm gerne in Kauf genommen, um ihren Kindern einen gewissen Schutz zu bieten. Diese Straßen sind sehr belebt, nachts beleuchtet und in der Eintrittshalle des Wohnhauses ist immer jemand zugegen, der aufpasst. Sei es tagsüber der Hausmeister oder nachts das Sicherheitspersonal.
Ich fand es anfangs verwunderlich, dass die Mehrfamilienhäuser generell keinen automatischen Türöffner, sondern nur die Gegensprechanlage haben. Wenn man Besuch bekommt muss man aus Sicherheitsgründen selbst runtergehen und die Tür aufschließen, wenn man keinen Hausmeister hat, der das für einen erledigt. Und der macht auch nur dann auf, wenn der Besucher über die Anlage erkannt und hereingebeten wird. In unserem Wohnhaus gibt es eine Videokamera, die für die Bewohner an der Haustür installiert ist, damit sie über einen Fernsehkanal checken können, wer an der Tür ist.
KRIMINALITÄT
Ich hatte zwar schon gehört, dass Buenos Aires - wie viele andere Großstädte auch - teilweise unsicher und gefährlich sei, aber bei all den Bedenken und Tipps der Familie konnte ich irgendwann nicht mehr beurteilen, was davon wirklich glaubwürdig, und was die Angst bzw. das Misstrauen der Leute war.
Einige Familienangehörige erzählten mir ihre persönlichen Erfahrungen. Eine Tante, die in der Gegend Once wohnt, wurde schon zweimal in ihrer Anwesenheit beraubt: zwei Jungs haben sie an der Einganstür bewaffnet dazu gezwungen, sie mit in ihre Wohnung zu nehmen, wo sie dann in aller Ruhe Wertgegenstände eingepackt haben, während die Tante gefesselt in der Ecke saß. Ein Cousin, der in Mar del Plata wohnt und dort ein Internetcafé hat, wurde in ca. 9 Jahren schon über zehn Mal ausgenommen. Jugendliche kamen bewaffnet ins Internetcafé und nahmen das Bargeld mit, teilweise waren es sogar dieselben Typen. Meine Schwiegermutter wurde auch schon auf der Straße überfallen und als sie einmal im Bus Taschendiebe erkannte und dies laut kundgeben wollte, hatte sie mitten im Satz plötzlich zur Drohung ein Messer auf der Brust und stieg bei der nächsten Haltestelle zitternd aus.
Vor einigen Jahren war der Raub über den Balkon von Wohnungen Mode. “Spiderman” war am Werk und bestahl die Menschen während des Schlafs indem er über den Balkon in die Wohnung einstieg. Seitdem kann man zahlreiche Balkone der Stadt auf den unteren Etagen und einigen obendrüber komplett vergittert sehen. Die sehen aus wie Käfige. Überhaupt findet man viele Einfamilienhäuser, die hinter Mauern und Gittern verschanzt sind.
Meiner Meinung nach werden die Argentinier vom Fernsehen mit Schreckensnachrichten täglich zugebombt, was erklärt weshalb viele Bewohner, meistens die älteren Generationen, ständig auf der Hut und sehr misstrauisch sind. Sie haben Bedenken, die mir niemals durch den Kopf gehen würden weil ich nie unter solchen Umständen gelebt habe.
Ein paar Beispiele: wir haben etwas im Auto vergessen und wollten es holen gehen. Das Gegenargument war: Nein, lieber nicht. Wenn dich jemand beobachtet, wie du etwas aus dem Auto holst, glaubt er wohl, da ist mehr zu holen und könnte versuchen es aufzubrechen oder die Scheibe einschlagen. Lasst uns ein Schild an den Balkon hängen um kundzutun, dass die Wohnung vermietet werden soll. Gegenargument: Nein, lieber nicht. Da könnte jemand die (noch bewohnte) Wohnung besichtigen aber im Sinn haben, dich auszurauben. Taxi nehmen: Nur Radio Taxi, die anderen könnten Kriminelle sein, die sich als Taxifahrer ausgeben.
Diese Art von Bedenken haben mich bei meinem ersten Besuch in Buenos Aires 2009 irgendwann nervös gemacht. Ich bin in einer Kleinstadt in Deutschland großgeworden, in der man sogar vergessen konnte das Auto abzuschließen, ohne dass notwendigerweise etwas passierte. Danach habe ich fünf Jahre in Barcelona gelebt. Dort gibt es zwar viele Taschendiebe und auch Kriminalität, aber ich war immer aufmerksam und mir ist nie etwas passiert. Nie hatte ich Bedenken oder Angst, nachts durch die Stadt zu gehen, weder alleine, noch zu zweit.
Und nach all diesen Warnungen, Schauermärchen und gut gemeinten Tipps merkte ich, dass ich langsam ängstlich wurde. Nicht weil mich vielleicht jemand beklaut und ich nichts mitbekomme, wie es zum Beispiel in Barcelona für gewöhnlich der Fall ist. Sondern die Vorstellung, dass mir jemand Gewalt antut und keine Skrupel hat mich für “nen Appel und ein Ei” abzustechen.
Ich empfand meine bisherige Lebensweise nun als Luxus, denn ich hatte mir nie Gedanken über meine Sicherheit gemacht. Wenn ich jedoch die Freunde von Turko zu dem Thema befragte, sahen sie das alles nicht so dramatisch und keiner von ihnen konnte eine schreckliche Erfahrung teilen. Sie waren der Meinung, dass man aufmerksam, aber nicht paranoid und verängstigt sein müsste. Bei meinem zweiten Besuch ging ich die Sache schon viel entspannter an und schenkte diesen Gedanken kaum Beachtung. Hier der Link zu einem kurzen Video, das gut zu diesem Thema passt, es ist witzig und sehenswert! Schaut kurz rein!
http://www.youtube.com/watch?v=D9FQxiUtQ88
Bei meinem ersten Besuch hat mich Buenos Aires einfach nur total übermannt und ich war nicht fähig die schönen Seiten der Stadt zu sehen. Heute schätze ich ihre Besonderheiten und die wahnsinnig netten Leute, die mich umgeben und mir einen Einblick auf ihre Kultur und ihre Heimat gewähren und stets bereit sind meine Fragen zu beantworten. Inzwischen fühle ich mich wohl und habe entschieden, mich weder von dem Lärm, noch von der Angst der Leute anstecken zu lassen und einfach meinen Aufenthalt zu genießen. Ich denke, das habe ich unter anderem auch meinen täglichen Yogastunden zu verdanken. :-)
I LOVE BUENOS AIRES! :-)